20. Dez 2013
Frau Keller hat eine künstliche Herzklappe. An einem solchen Fremdkörper im Blut können sich Blutgerinnsel bilden, sog. Thromben.
Wenn diese mit dem Blutstrom in das Gehirn transportiert werden (Embolie) und dort eine Ader verschließen, kommt es zum Schlaganfall. Um das zu
verhindern, muss die Blutgerinnung von Frau Keller gehemmt werden. Das geschieht üblicherweise mit Medikamenten wie Marcumar® (Phenprocoumon).
Das Problem nun ist, dass die Wirkung des Marcumar sich immer wieder ändert, sie ist abhängig von der Ernährung, von Begleitmedikamenten und vielem anderen mehr. Frau Keller kann also nicht einfach morgens ihr
Medikament schlucken, wie das sonst so üblich ist. Die Wirkung des Marcumars auf die Gerinnung muss regelmäßig gemessen werden. Dafür wird der sog. INR-Wert (früher Quick-Wert) benutzt.
Ist der INR zu hoch, wirkt Marcumar zu stark. Es besteht Blutungsgefahr, die Dosis muss reduziert werden. Ist der INR zu niedrig, ist die Wirkung von Marcumar zu schwach, es besteht die Gefahr der Gerinnselbildung (Embolie), die Dosis muss erhöht werden. Der INR-Wert sollte immer im
sogenannten therapeutischen Bereich liegen.
Je genauer der INR im therapeutischen Bereich gehalten werden kann, um so geringer sind also die Komplikationen wie Blutungen und Schlaganfälle. Eine gute Gerinnungseinstellung vermeidet also Komplikationen. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie die Marcumartherapie gesteuert werden kann.
Frau Keller geht alle ca. 2-4 Wochen zum Hausarzt. Hier wird der INR-Wert gemessen. Der Hausarzt legt für die nächsten 2-4 Wochen die Medikamenteneinnahme fest. Oder Frau Keller entnimmt sich selbst Blut aus der Fingerbeere und misst mithilfe eines kleinen Messgerätes (CoaguCheck®) den INR-Wert. Dann legt sie selbst die Tabletteneinnahme
für die nächste Woche fest. Damit Frau Keller weiß, wie das geht, muss sie an einer ausführlichen Schulung teilnehmen. Anschließend ist sie in der Lage, ihre Gerinnung selbst zu steuern.
Frau Keller muss nicht an einer Schulung teilnehmen. Sie muss sich nicht selbst in den Finger pieksen. Die Blutentnahme findet beim Hausarzt statt, meist alle drei bis vier Wochen aus der Vene. Die Therapie ist wesentlich kostengünstiger für die Krankenkasse (keine Schulungskosten,
keine Gerätekosten).
Frau Keller muss regelmäßig zum Hausarzt zur Blutentnahme. Wenn sie unterwegs ist, z. B. im Urlaub oder auf Geschäftsreise, muss sie sich dort vor Ort einen Arzt organisieren, der ihren Hausarzt vertreten kann.
Es wird nur alle 3-4 Wochen Blut entnommen. Das Risiko, dass der INR-Wert den erforderlichen therapeutischen Bereich in dieser Zeit verlässt, ist daher relativ groß, somit ist auch die Gefahr von Komplikationen größer.
Frau Keller ist gut geschult, und weiß schon von sich aus, wie sich Änderungen der Lebensumstände auf ihre Gerinnung auswirken, z. B. ein grippaler Infekt, Durchfall, eine Urlaubsreise, eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten. Sie kann das bei der Medikamenteneinnahme
berücksichtigen.
Frau Keller misst mindestens einmal in der Woche ihren INR-Wert. Sie kann bei Veränderungen rechtzeitig gegensteuern. Wenn Frau Keller unterwegs ist, hat sie ihr Messgerät immer dabei. Sie hat ihren INR-Wert immer unter Kontrolle. Sie braucht keine fremden Ärzte aufzusuchen, die ihre
konkreten Lebensumstände gar nicht kennen. Das Entscheidende aber ist: Dadurch dass Frau Keller ihren NR-Wert engmaschig unter Kontrolle hat, ist er viel besser eingestellt, er liegt nur sehr selten außerhalb des
therapeutischen Bereichs, es kommt daher viel seltener zu Komplikationen wie Blutungen oder Embolien.
Frau Keller muss an einer Schulung teilnehmen, dann aber kann sie ihre Gerinnung selbst in die Hand nehmen. Die Therapie ist wegen den Schulungs- und Gerätekosten für die Krankenkassen teurer. Das aber nur kurzfristig. Durch die Selbstmessung werden Komplikationen, dadurch erhebliche Kosten für die Kassen vermieden, aber auch erhebliches Krankheitsleid für die Betroffenen.
Die Selbstmessung der Gerinnung ist also die bessere Form der Therapie. Natürlich kann nicht jeder Patient diese Therapie anwenden. Voraussetzung ist, dass der Patient zur Selbstmessung und –steuerung geistig und auch manuell in der Lage ist. Wenn das der Fall ist, und der Patient dazu bereit ist, ist dieser Form der Gerinnungssteuerung auf jeden Fall der Vorzug zu geben. Diese Therapie vermeidet Blutungen und Schlaganfälle. Sie bedeutet für den Patienten einen erheblichen Zugewinn an Kompetenz und Lebensqualität, da er aktiv die Therapie seiner Erkrankung selbst in die Hand nimmt. Die Krankenkassen wehren sich leider heftig gegen eine Kostenübernahme, weil sie nur das Geld sehen, das sie dafür ausgeben müssen. Sie sehen leider nicht, dass durch die Selbstmessung viele Komplikationen vermieden werden können, damit also auch Geld gespart wird. So war es auch bei Frau Keller. Die Krankenkasse lehnte den Antrag ab. In dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen heißt es u. a.: „Die Selbstmessung der Blutgerinnung ist für die Patientin angenehm, erspart Wartezeiten beim Arzt.“
„Frau Keller ist nicht mehr berufstätig, sie ist mobil – kann also ihren Hausarzt oder behandelnden Kardiologen zur Durchführung von Blutentnahmen aufsuchen.“ „Es kann der Versicherten zugemutet werden, vorübergehend engmaschige Kontrollen mit der Aussicht auf spätere seltenere Kontrollen ihrer Blutgerinnung in der Arztpraxis durchführen zu lassen.“
So denken leider die Krankenkassen. Sie halten die Selbstmessung für eine Luxustherapie, die für den Patienten angenehm ist, und daher nur in bestimmten Situationen bezahlt wird, z. B. bei Berufstätigen, die viel im
Ausland unterwegs sind. Allen anderen ist der Weg zum Arzt „zuzumuten“.
Uns fragte die Krankenkassenmitarbeiterin im Hinblick auf Frau Keller, ob man der Patientin denn nicht zumuten könne, zu den Blutentnahmen zu uns in die Praxis zu kommen.
Darauf habe ich geantwortet: „Natürlich wäre das ihr zuzumuten. Aber darauf kommt es nicht an. Auch die Selbstmessung ist, wenn Sie so
wollen, eine Zumutung. Sie mutet dem Patienten zu, an einer ausführlichen Schulung zu seinem Krankheitsbild teilzunehmen, regelmäßig die INR-Messungen bei sich selbst durchzuführen, die Verantwortung für die INRMessung und das Monitoring zu übernehmen. Dies kann man nur aktiven und aufmerksamen Patienten zumuten, die die Behandlung ihrer Erkrankung an diesem Punkt teilweise selbstverantwortlich übernehmen, um somit
für sich mehr Sicherheit zu erhalten und Komplikationen weitgehend zu vermeiden.
Ich empfehle Ihnen, Ihrer Versicherten die Selbstmessung „zuzumuten“. Sie ist bereit und in der Lage dazu. Sie ersparen Ihrer Krankenkasse die Kosten der Behandlung von Komplikationen und gewinnen ein zufriedenes, gut
in seiner Erkrankung geschultes Mitglied.“
Das hatte die Krankenkasse dann verstanden, Frau Keller erhielt ihre Genehmigung.
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Dr. Norbert Wittlich
Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie