MED Facharztzentrum
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Ermüdungsfrakturen - Osteoporose oder was sonst?

16. Mai 2019

Frau Keller hat eine große Familie mit vielen Mitgliedern, die den Lesern der MED News bestens bekannt sein dürften. Alle erkrankten Familienmitglieder werden in der MED in Mainz behandelt. Diesmal geht es um eine Nichte zweiten Grades, 36 Jahre alt und Leistungssportlerin.

Sie hatte im Mai letzten Jahres die deutschen Leichtathletik-Meisterschaften im 10.000 m Lauf gewonnen und bereitete sich auf die Weltmeisterschaften vor. Bereits in der Vorbereitung auf die Meisterschaft im Mai, hatte sie Schmerzen in der linken Wade und im Bereich des Schienbeins, was als Knochenhautreizung diagnostiziert und behandelt worden war.

Vier Wochen nach der Meisterschaft war dann plötzlich die Schmerzsymptomatik wieder schlimmer geworden und kein Leistungstraining mehr möglich gewesen. Sie kam zur Abklärung dieser Schmerzen in die MED in Mainz.

Der behandelnde Orthopäde, Dr. med. S. Sarfert, überwies die Patientin in die Radiologie im Hause (Die Radiologen in der MED) zur MRT (Kernspintomographie)-Untersuchung des Unterschenkels (Abb. 1). Der zuständige Radiologe Dr. med. S. Both diagnostizierte bei dieser Untersuchung eine Ermüdungsfraktur der Tibia links. Es wurde eine Behandlung mit Ruhestellung der Extremität und lokalen antientzündliche Maßnahmen vom Orthopäden eingeleitet. Es erfolgten physiotherapeutische Maßnahmen durch Frau Bianca Kiefer, Physiotherapeutin in der MED. Die Patientin wurde zur weiteren Abklärung der Genese dieser Ermüdungsfraktur in die Osteologie zu Prof.
Dr. med. Dr. h.c. Chr. Wüster in der MED überwiesen.

Die Patientin war 163 cm groß und wog 49 kg, sie hatte somit einen BMI von 18,4 kg/m2. Die ausführliche Labor-Untersuchung zur osteologisch-endokrinologischen Abklärung zeigte einen Eiweißmangel und einen erniedrigten Knochenumbau. Es wurde eine Knochendichtemessung durchgeführt, diese zeigte erniedrigte Knochendichtewerte. Die Patientin wurde mit einem Medikament behandelt, das Knochenaufbaustimulierend und -frakturheilend wirkt. Es muss täglich unter die Haut gespritzt werden. Mit Kalzium und Vitamin D/Vitamin K wurde die Patientin zusätzlich behandelt und die Fraktur heilte nach sechs Wochen, was auf der Kontroll-MRT dokumentiert wurde (Abb.2). Die Patientin konnte an den Weltmeisterschaften im Herbst des gleichen Jahres erfolgreich teilnehmen.

Abb. 1

Abb. 2

Was sind Ermüdungsfrakturen?

Für Ermüdungsfrakturen werden viele Synonyme verwendet, so zum Beispiel Stressfraktur, Bone bruise, Marschfraktur, auch die Knochenmarksödem-Syndrome können ähnlicher Genese sein und in diese Kategorie gehören.
Ermüdungsfrakturen betreffen nicht nur Athleten, sondern vor allem auch Soldaten und Balletttänzer. Bei Soldatinnen und Soldaten werden sie Marschfrakturen genannt. Die Häufigkeit ist relativ hoch. So gibt es bei 10 % der Rekruten nach drei Monaten der Grundausbildung solche Knochenläsionen, bei Athletinnen und Athleten geht man von einer Häufigkeit von 20 % aus.

Betroffen sind häufig der Schienbeinknochen (Tibia), der Wadenbeinknochen (Fibula), die Mittelfußknochen (Metatarsalia), die Fußwurzelknochen (Tarsalia) wie zum Beispiel das Os naviculare und aber auch der Schenkelhals. Sitzbeinfrakturen des Beckens sind keine Seltenheit.

Die Diagnose wird gestellt durch bildgebende Verfahren, die in Verbindung mit der klinischen Symptomatik interpretiert werden müssen. Hierzu gehört das konventionelle Röntgenbild, wie aber auch die Kernspintomographie (MRT), die Computertomographie (CT) und die Knochenszintigraphie. 

Die höchste Spezifität hat dabei der Nachweis eines Bruchspaltes in der Computertomographie. Differenzialdiagnostisch muss natürlich wie immer bei solchen Knochenläsionen auch an maligne Knochenerkrankungen oder entzündliche Knochenveränderungen gedacht werden. Deshalb ist es absolut erforderlich, eine differenzialdiagnostische osteologische Abklärung mit entsprechender Labordiagnostik vorzunehmen.

Welche Risikofaktoren gibt es?
Die Hauptrisikofaktoren für Ermüdungsfrakturen zeigt die folgende Tabelle:

  1. Länger anhaltende Belastungen (zum Beispiel > 100 km Laufen pro Woche)
  2. Gewichtsabhängige Sportarten
    • Je leichter, desto besser
    • Alle Anti-Gravitationssportarten
    • Sportarten mit Gewichtsklassen
  3. Osteoporose- bzw. Osteomalazieformen
    • Hypophosphatasie
    • Osteogenesis imperfecta
    • Andere genetisch bedingte, juvenile Knochenstoffwechselerkrankungen
  4. Calciumstoffwechselstörungen, Vitamin D-Mangel oder Vitamin D-Rezeptor-Defekte
  5. Niedrige Energieverfügbarkeit
  6. Essstörungen
  7. Das relative Energiedefizienz-Syndrom bei Sportlern (RED-S)


Wichtige diagnostische Maßnahmen

Die osteologisch-endokrinologische Abklärung beinhaltet einmal eine Analyse der Knochenstoffwechselparameter, hier werden die Osteoblasten- und Osteoklasten-Aktivität im Blut (P1NP, CTX) gemessen. Bei den Stressfrakturen findet man typischerweise eine Erniedrigung dieser Knochenmarker. Dieser Befund ist insbesondere besonders beachtenswert, als ansonsten bei Frakturen im Blut der Knochenumbau gesteigert ist, da die Frakturheilung einen erhöhten Knochenumbau benötigt und dies daher im Blut mitgemessen wird. Unbehandelte Stressfrakturen heilen deutlich schlechter, dies liegt an dem erniedrigten Knochenumbau.

Selbstverständlich gehört auch zur Abklärung solcher Stressfrakturen eine Analyse des Calciumstoffwechsels mit Messung von Serum-Calcium, -Phosphat, Parathormon (iPTH) und Vitamin D sowie dessen Metaboliten im Blut. Die Erniedrigung der Alkalischen Phosphatase ist zum Beispiel pathognomonisch für das Vorhandensein einer genetisch vererbten Erkrankung dieses Enzym, der Hypophosphatasie. Häufig findet man aber auch Vitamin D-Rezeptordefekte, die genetisch vererbt werden und erst im Erwachsenenalter manifest werden können. Die Erkrankten berichten dann oft, dass sie als Kind „Rachitis“ gehabt hätten, manche haben sogar auch ihre bleibenden Zähne verloren.

Einer der Hauptrisikofaktoren für das Auftreten solcher Ermüdungsfrakturen ist das relative Energiedefizienz-Syndrom bei Sportlern (RED-S). Hierbei steht der relative Energiemangel im Vordergrund, die Patienten haben meistens einen hohen Energieverbrauch durch die körperliche Aktivität und es findet sich eine relativ inadäquate Energieaufnahme. Diese wird als Energieaufnahme abzüglich des Energieverbrauchs durch körperliche Aktivität relativ zur fettfreien Masse berechnet. Bei gesunden Erwachsenen hält einen Wert von 45 Kcal/kg/Tag die Energiebilanz aufrecht. Gemessen werden kann dies durch Analyse der Kalorienzufuhr, hierfür stehen spezielle Apps für das Smartphone wie zum Beispiel MyFitnessPal (https://www.myfitnesspal.com/de) zur Verfügung. Diese Apps lassen sich dann auch mit einem Fitness Tracker (z.B. https://www.garmin.com) verbinden, der den Energieverbrauch pro Tag misst.

Durch diesen übermäßigen systemischen Katabolismus kommt es schlussendlich auch zum Knochenabbau, der Knochen gibt dann an stark belasteten Stellen nach, eine Ermüdungsfraktur entsteht. Dies ist ein schleichender Prozess, der über Wochen andauert. Ein Ermüdungsfraktur entsteht also nicht wie andere Knochenbrüche, bei denen der Knochen durch eine akute Belastung (Trauma) bricht.
 
Differenzialdiagnostisch muss natürlich immer auch an eine Anorexia nervosa, also eine psychische Störung gedacht werden, die mit ähnlichen Symptomen einhergehen kann, aber bei der die Patienten in der Regel eine Uneinsichtigkeit der Grundproblematik zeigen. D.h. Sportlerinnen und Sportler wissen um die Problematik, sind einer Therapie aufgeschlossen und erholen sich davon, während Patienten mit einer Essstörung ja die körperliche Aktivität als Mittel zum Zweck d.h. zur Gewichtsreduzierung benutzen. Beide Patientengruppen haben Zyklusstörungen bzw. niedrige Testosteronspiegel und niedrige Knochendichte. Es erfordert also spezielle Erfahrung des Arztes diese Differenzialdiagnose herauszuarbeiten.

Enge Kooperation behandelnder Fachärzte und Therapeuten bei der Therapie

Die Therapie von Ermüdungsfrakturen erfolgt durch ein interdisziplinäres Management und die Zusammenarbeit von Orthopäden, Unfallchirurgen, Osteologen, Radiologen und Physiotherapeuten. Auch eine psychologische Betreuung muss erwogen werden, da der Leidensdruck der Leistungs-Sportlerinnen und -Sportler häufig extrem hoch ist. Es sollte auch eine Einbeziehung von Familie und sozialem Umfeld sprich z.B. des Athletiktrainers erfolgen.

Die Therapie besteht aus Optimierung der Energieaufnahme, d.h. Zufuhr von Eiweiß und kalorienreicher Ernährung. Der zur Fraktur führende Knochenkatabolismus bleibt auch noch Wochen nach dem Wettkampf bestehen. D.h. auch Wochen nach der Hochtrainingsphase muss der Athlet sich hochkalorisch ernähren. Der Knochenkatabolismus wird durch Zufuhr von Kalzium, Magnesium und Vitamin K als Nahrungsergänzungsmittel behandelt. Vitamin D muss vom Arzt verschrieben werden und sollte initial hoch genug dosiert werden (je nach Serumspiegel).

Eine Therapie mit einem knochenaufbauenden Medikament (z.B. Teriparatid oder Romosozumab) liegt in der Entscheidung des behandelnden Osteologen, kann aber zu einer deutlich verbesserten und beschleunigten Frakturheilung führen und so den Genesungsprozess von in der Regel sechs Monate auf sechs Wochen verkürzen. Eine solche Therapie führt zu einer deutlichen Stimulation des Knochenumbaus (Abb.3) Der Einsatz von anderen Osteoporose-Therapeutika wie z.B. Bisphosphonate oder Denosumab (RANKL-Antikörper) hat eine Verschlechterung der Frakturheilung zur Folge.


Frauen mit Zyklusstörungen sollten zyklusnormalisierende Maßnahmen erhalten, d.h. der Östrogenspiegel muss normalisiert werden. Dies kann zum Beispiel bei Frauen vor den Wechseljahren durch eine Antibabypille erfolgen, bei Frauen nach den Wechseljahren durch eine Östrogensubstitution. Männern mit Testosteronmangel wird durch die Gabe von Testosteron geholfen.

Eine Schmerztherapie, Hochlagerung der Extremität, Ruhe und Entlastung sind lokale Maßnahmen, des Weiteren können Lymphdrainagen die Linderung der Schmerzen begünstigen. Eine Cryotherapie wird häufig sehr erfolgreich eingesetzt.

Je nach klinischer Symptomatik kann dann eine Kontrollkernspintomographie zeigen, ob die Extremität wieder belastbar ist und der Sportler beziehungsweise der Soldat oder Balletttänzer sein Training wieder aufnehmen kann.

Die Nichte von Frau Keller wurde entsprechend den genannten Maßgaben behandelt und konnte an den Weltmeisterschaften erfolgreich teilnehmen. Sie ist von allen weiteren Knochenbrüchen bisher verschont geblieben und hat als Prophylaxe sich stark an die Maßgabe gehalten, auch so viel Energie im Körper zu zufügen, wie sie verbrannt hat. Eine knochenfreundliche Lebensführung mit genügend Vitamin D, dessen Serumspiegel sie regelmäßig messen lässt, ist natürlich Grundvoraussetzung.

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Christian Wüster
Facharzt für Innere Medizin/Endokrinologie, Osteologie
MED Facharztzentrum
Hormon- & Stoffwechselzentrum, Prof. für Osteologie (Univ. Mainz)

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